Als ich 11 Jahre alt war, habe ich von einem wissenschaftlichen Experiment erzählt bekommen, in dem ein Baby nur ernährt, sich aber nicht mit ihm beschäftigt wurde. Es lag separiert in einem Zimmer, abgeschottet von jeglichem Kontakt, und weder wurde mit ihm gesprochen, noch konnte es hören, wenn andere miteinander sprachen, es kam zu regelmäßiger Stunde eine Amme herein, die das Kind fütterte aber nicht mit ihm kommunizieren durfte, nicht mit Worten, nicht mit Gesten. Es wurde warm gehalten, es war für Licht gesorgt - alles, was überlebenswichtig war, war gegeben. Das Baby starb. Es verweigerte die Nahrung und verhungerte.
Bis heute geht das Kind in mir herum und zieht mein Herz zusammen. Eine übergroße Traurigkeit überkommt mich. Irgendwie betrifft sie mich. Eine Seele, mit der keiner spricht, die nichts bedeutet, entwickelt nicht einmal den Selbsterhaltungstrieb der Nahrungsaufnahme und verlässt ihren Körper wieder. Besser gesagt, sie kann nicht in ihren Körper einziehen, nicht anfangen, ihn zu bewohnen. Ohne ihr Haus geht sie zurück ins Nichts.
Fortan beschäftigte mich die Bedeutung des Bedeutens. Irgendwann war da die Idee, der Sache einen Namen zu geben. Ein Sinnesorgan zu benennen. Es gibt den Hörsinn, Tastsinn, Geruchssinn, Geschmack, das Sehen. Ich nenne es das Gelaut. Ich weiß nicht mehr, wann es genau war, aber je älter ich wurde, desto schlüssiger wurde das für mich. Als meine Kinder anfingen zu sprechen, wurde es eine Passion, ich habe zugehört, zugeschaut, mitgefühlt, das b, das brrrr, das f, das a, das i, die Verbindungen von Lauten, die aufmerksamen Gesichtchen dabei, die Freude in den Augen, ihr Beben und Streben, die Frage im Blick, was für eine Reaktion führe ich herbei, da war aber vor allem auch der in sich gekehrte Blick, konzentriert, als fühlte die Seele in sich hinein, spürte ihrem Inneren nach, ich konnte zusehen, wie es sie glücklich oder nicht so glücklich machte, was sie fühlten. Anfangs gab es Lebensfreude im Wechsel mit Unwohlsein, Geborgenheit und Lust oder Hunger, Schmerz, Angst. Der Körper wird erlernt wie ein Instrument, die Vibration der Lunge, des Brustkorbs, das Glucksen im Mundraum, das Brummen, Ploppen und Pusten und Spucken. Die Stimme wird trainiert, ihr zugehört, manchmal erschreckend, so laut ist sie, man fährt sie hoch nach oben, die Ärmchen gehen mit, ein Kieckser, Freude, Glück, Befriedigung in ihrer reinsten Form, Laut geben ist die Ausbildung des Ich, der Seele, der Welt, der Welt des Ichs.
Indem wir zuordnen, werden wir Seele, sind wir, indem wir die Worte fühlen, indem wir sie sprechen, bewegen wir sie in uns, sind wir sie für den Bruchteil einer Sekunde. Unsere Laute sind unsere Lebenssegmente. Wir spüren sie dabei, wir spüren uns dabei, unsere Grenze, unseren inneren Raum. Mit unseren Lauten berühren wir nicht nur andere Wesen, sondern uns selbst. Wir loten uns aus, fühlen unsere äußere Schale, entwickeln verschiedene Höhen und Tiefen und Gefühlsnuancen. Ein Wort, eine Bedeutung, besteht aus vielen kleinsten Sinneswahrnehmungen mit denen wir fühlen und die Welt uns damit fühlbar machen - jedes kleinste Tönchen, und wenn wir es auch nur denken und nicht hörbar werden lassen, ist ein Seelenort, an dem man für den kleinen Moment ist, mit jedem Wort fassen wir viele kleine solche Momente zusammen, jedes Wort ist eine Gefühlsmusik, eine Komposition, ohne diese Musik verlieren wir jede Bedeutung und jeden Sinn und lösen uns auch als Materie wieder auf, sind nicht. Wort Ort. Mit dem Gelaut werden wir Ich.
Wird uns keine Bedeutung geschenkt, bedeuten wir uns selbst nicht. Empfinden uns nicht. Erleben, leben wir uns nicht. Sind wir nicht da, kein Ich, kein Mich, kein Selbst, kein Du, kein Er, Sie, Es. Das Ich gibt es nur in Beziehung. Hat man keine Bedeutung für sich, den Körper, den Hunger, gibt es Nichts. Keine Bedeutung, kein Wort, kein Gefühl. Man denkt nicht. Man fühlt nicht. Man ist nicht.
Die Faszination an Sprache zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Während meines Studiums der Germanistik belegte ich Linguistik und historische Sprachwissenschaft, später absolvierte ich einen Master im Neurolinguistischen Programmieren und habe mich intensiv mit den neuronalen Vorgängen beim Sprechen auseinandergesetzt und gelernt, dass es zwischen Vorgestelltem und wirklich Erlebtem kaum einen Unterschied gibt, was Hirnscans belegen. Ich habe erfahren, was Meditation ist. Ich habe gelernt, dass es auditive, visuelle und taktile Menschen und Kanäle gibt, das man an der Sprache erkennt, wie ein Mensch vorstellt und man daraus ableiten kann, wie man ihn erreicht. All das, was meine Idee des Gelauts vereint, ist nichts Neues. Was neu ist, ist nur das Wort Gelaut und die Bedeutung, die ich ihm beimesse, ich stelle mir vor, es gehört in den Duden und in die Biologie, in die Medizin und Heilkunde und Psychologie, ich stelle mir vor, echte Wissenschaft beschäftigt sich damit, das Gelaut zu definieren. Ein Gelaut schlösse eine Lücke, schlüge eine Brücke - Lücke und Brücke - es kann kein Zufall sein, dass die beiden Wörter lautsprachlich so ähnlich sind und thematisch so nah beieinander liegen. Ist es aber nicht. Es ist das Gefühl der Ücke, des B und des L.
Die Idee des Gelauts begleitet mich nun schon so lange. Da ich aber keine Wissenschaftlerin oder Ärztin bin, die Zugang hätte zu Forschung und Hirnscans, beschäftige ich mich auf dieser Seite und in meinem Leben auf unterschiedlichste Weise und eher eine philosophische und spielerische Art damit.
Sie weiß nicht mehr, wann es anfing, sie war vielleicht zehn Jahre alt, da verliebte sie sich in Winnetou.
Die Mutter hatte angefangen, Karl May vorzulesen, jeden Abend ein Kapitel. Ab dem Moment, in dem Winnetou auftauchte, ging das zu langsam und sie las alleine weiter. Sie konnte es kaum erwarten, bis Winnetou wieder auftauchte, manchmal übersprang sie lange Passagen und suchte nach den Szenen, in denen Winnetou wieder vorkam. In ihrem Kinderzimmer gab es kein amerikanisches, billiges Plastikspielzeug, keine Barbies oder Matchboxautos, sie hatten Tücher und Wäscheklammern zum Häuser bauen für Rollenspiele und sollten sich ansonsten selbst basteln oder malen, womit sie spielen wollten. Je kreativer, desto besser. Das erste Theaterstück, welches sie besucht hatte, war Jedermann, spät abends, im Kloster Eberbach, sie quengelte, sehr zur Enttäuschung der Mutter. Bei einem Besuch der Cousinen in München schrieben und inszenierten sie ein Theaterstück und verlangten 10 Pfennig Eintritt, davon erzählten die Eltern noch lange.
Als Winnetou in ihr Leben kam. änderte sich alles. Häuptlingssohn der Apatschen. Anfangs kam er, wenn ihr langweilig war und sie alleine war, dann wartete sie, bis die Momente sich ergaben, dann suchte sie sie. Sie konnte es kaum erwarten, aus der Schule zu kommen und selbst das ihr verhasste Mittagessen aß sie ohne Probleme zu machen schnell auf, damit sie in ihr Zimmer zu Winnetou konnte. Sie schloss die Augen. Sie sagte seinen Namen. Winnetou. Er kam.
Er hatte volle Lippen, sanfte Augen, eine weiche Stimme und roch nach Leder, Sonne und Wind. Sie mochte den Ernst in seinen Augen, seine Sanftheit. Die Ruhe. Die Würde. Er sah sie. Oft dachte sie daran, wie er am Marterpfahl stand. Unbestechlich. Er kämpfte für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie würde ihr Leben für ihn geben. Bestimmt. Das Be macht etwas, bringt etwas zuende. Befriedigt. Beherzigt. Bestimmt. Das war gut so. Das weiche B am Anfang, so weich wie er, die beiden M aus ihrer Mitte, ohne Anstrengung oder Angst, das I gab ihr die hohe Kraft. Das T war fest. Damit gehörte sie ihm. És würde keinen anderen für sie geben.
Sie stellte sich vor, dass er sie liebte. Es bitzelte in ihr unter seinem Blick. Erde, Pferde, werden. In diesen Worten klang ihr wildes Ich. Sie sprach sie in sich rein, das E, das R, das D, das war so schön weich und zärtlich in ihrer Kehle. Sie wollte sein. Sie wollte nicht mehr ihr Gesicht im Spiegel suchen. Sie wollte nicht mehr ihre Stimme verstellen. Ihren Namen nicht fühlen. Sie wollte werden. Erde, Pferde. Bestimmt für Winnetou. Winnetoubestimmt. Verbündet. Keiner konnte das sehen. Keiner konnte das verstehen.
Irgendwas passte nicht, sie lebten aneinander vorbei. Er war verliebt in die Bühne, später in seine Firma, in seine Bedeutung, sie in ihre, in die drei Söhne. Erst als sie ein ihr eigentlich völlig gleichgültiger Klassenvater nach dem Elternabend ansprach, ging sie dazu über, morgens um fünf Uhr Joggen zu gehen, dann wurde sie krank, Anämie, Pfeifersches Drüsenfieber, Borreliose, dann machte sie Yoga. Sie war nichts ohne Bewunderung.
Sie hörte auf zu hören.
Sie fragte ihr Gelaut nach dem Sinn. Das H vorne ist das Zarte, Empfindliche, leicht und flüchtig wie ein Windhauch, das Ö ist eine Möglichkeit, die aus dem Solar Plexus, dem Zentrum kam, eine volle Option, die Länge des Ö war Zeitraum, etwas Andauerndes, Weiches, Zähflüssiges, wie Öl, das floss den langen Gehörgang bis zur Schnecke in den Kopf, streifte die feinen Härchen und Membranen, Zilien und Stereovillis. Das R war die Selbstverteidigung, ein kleines bisschen Angriff, das EN das Tun, Beweglichkeit, Übergang. Demnach musste es eine Entscheidung zum Hören und zum Aufhören geben. Das Auf war der Grund.
Als Kind klaute sie. Niemals unnütze Dinge, immer war der Wunsch, etwas zu haben der Impuls. Es sich gehörig zu machen. Es fühlte sich an, als war in ihr das großes schwarze Loch aus dem Universum, das saugte alles ein, sogar sie selbst. Wenn sie sich zurückerinnerte, fühlte sich das Ich an, als war das nicht sie, als waren das viele verschiedene einzelne unangenehme Geschichten über ein Mädchen, welches nichts mit ihr zu tun hatte. Sah sie sich selbst auf Fotos, war sie überrascht und interessiert. So sah sie also aus. Hässlich. Sie war sich nicht sympathisch. Fremd. Wenn sie dachte, dass sie Angst gehabt hatte, lachte sie dabei.
Irgendwann dann hatte sie aufgehört.
Worte sind Geheimcodes, dachte sie. Seelenorte, Befindlichkeiten, das Einzigartige, irgendwo in einem inneren Raum, der Körper als Klangkörper. Ören ist mit dem En ein Dauern, durch das Ö aus dem unteren Zentrum, mit dem R eine Kraft.
Hören tut man nicht, es ist, fein und leise, scheint einfach zu passieren, Laute fließen ins Gehör, von da ins Denken, wo man sie spricht, im Körper, sie sich fühlen macht. Sie dachte darüber nach, was es mit dem ören auf sich hatte und was beim Betören, dem Zerstören und dem Schwören den kleinen Unterschied machte. Das be von betören liess auf eine ausgelagerte Schaltzentrale schliessen, eine Matrix, irgendwo entschied etwas oder jemand darüber, dass man betört war, dann das aggressive zer vor das stören, eine klare Entscheidung, entschlossen im st, kaputt machen, auseinanderreissen. Der dramatische Code des Schw im Schwören. Ab ins Gefängnis. Ich schwöre, gewichtig und schwülstig auf Blut und Siegel so groß. Sie überlegte.
Aufhören.
Körper und Geist untrennbar. Der Geist Gedanke, Idee, Schönheit, Konzept, der Körper. Fühler, Umsetzer, Werkzeug, Stofflichkeit.
Geist, der eine Idee entwickelt, kann von körperlichem Schmerz außer Kraft gesetzt werden. Der Maler braucht die Hand, der Ingenieur das Auge, ein Barkeeper Geschmacksknospen. Existenz braucht Körper. In dieser Bedingt- und Abhängigkeit geht der Mensch auf. Nur ein kleiner Schnitt im Daumen kann alles verändern.
Kein Wort reimt sich auf Mensch.
Schmerz Herz.
Erz ist ein E, stofflich wie die Erde, gerade aus der Brust, ein R ein bisschen aus dem Hals gegrollt, Ichkraft, und das Z, das nach hinten zischt um sich abzugrenzen gegen alles was danach kommt. Ein Z verbindet sich nicht, man kann es auch nicht anders aussprechen als Z. Es fordert seinen Platz - auch der mit Z. Das Herz braucht das H, leicht, zart, zurückhaltend, bestehend nur aus der Luft, die wir geatmet haben und mit etwas Druck nach oben durch Kehle und Gaumen aushauchen und uns öffnet, Luft und Liebe. Der Schmerz bleibt innen, Schm, schwer und breit holt er uns mit dem M im Mund in unseren Körper und verchließt uns den Mund, wie die Schmach, wie die Schmiere, das Schmecken oder Schmunzeln.
Schmerz Herz. Existenz.
Schon
Was bedeutet das?
Erforscherin der Sprache
Ng aus Angst schnürt alles zu
Schon
Ein Wort
Intonation
Ich atme ein, ich atme aus
Ich höre Stille und Lärm, Stille und Lärm.
Ich denke oft daran, wie es gewesen sein muss, als ich entstanden bin. Ein Moment, im Rauschen des Blutes und im Rhythmus des Herzschlags meiner Mutter. Als ich aus zwei eins wurde, unmöglich, dass ein so existentieller Moment ganz ohne Gefühl geht, irgendwer muss doch etwas gespürt haben, etwas empfunden, meine Mutter, vielleicht ohne, dass sie es zuordnen konnte, ein Blitz, ein kleines Klack im Bauch, eine beglückende Wärme, ein kurzes Gefühl, dass etwas Großes passiert ist - ich versuche, mir das vorzustellen. Man ist einfach. Wann fängt das an, wann hört das auf. Wie ist der Anfang. Man schwimmt im warmen und weichen Rosa herum, und wartet auf den nächsten Herzschlag, der die Antwort auf die ständige Frage ist „werde ich leben und werde ich im nächsten Moment auch noch leben“. Ein einziges Warten auf Antwort.
Ich verstehe, warum wir rauchen. Scharfe beissende Luft einziehen, damit man merkt, dass man atmet, lebt. Irgendwas merkt. Rauchen ist wie ein Verstärker, das in der Lunge spüren, man atmet, da ist es, das Leben, und das antwortet, ja, du lebst, entspann dich, atme aus. Rauchen ist glühende Frage nach Leben und gibt für einen Atemzug die erlösende Antwort.
Ist das das Prinzip, das allem zugrunde liegt? Die Frage, werde ich leben? Sehnsucht, Neid, Lust, Freude, Vertrauen, Missgunst, Glück, Respekt, sind alle Gefühle nur die Variation einer unbedingten Frage und einer einzigen Antwort? Gibt es unten, ganz hinten in uns, eigentlich nur Angst und keine Angst, wie schwarz und weiß, Plus und Minus, Frage und Antwort? Die Frage ist Hunger, die Antwort ist satt? Die Frage ist, werde ich weiterleben, die Antwort ist ja? Und während das kleine Leben mit nur diesen beiden großen Gefühlen langsam in seinem Kokon reift, ist die Mutter schon abgelenkt von den vielen Worten in ihrem Kopf, eigentlich ist sie aber auch eine „werde ich weiterleben“, eigentlich ist sie die Frage und ihr wachsender Bauch die Antwort. Wir kommen auf die Welt, um eine Antwort zu sein für die Frage der Mutter, sind aber wieder Frage und suchen die Antwort. Frage und Antwort in einem, unbeantwortete, hungernde Frage, die sich damit zu beruhigen versucht, zu konsumieren, wir dichten, erschaffen, erfüllen, um die brennenden Frage "werde ich leben" zu stellen und damit zu beantworten.
Weil sie nach dem Abi nicht wusste, was sie werden wollte, jobbte sie in einer Bar, in der die Groupies nach der Sperrstunde der Spielbank ihr Bier tranken, und in einer Marktforschung, die Waschmittel und Orangensaft testete. Sie verbrachte ihre Tage mit Geld verdienen und ausgeben. Ein Jahr später immatrikulierte sie sich an der Universität für Germanistik. In Deutsch war sie in der Schule gut gewesen. Faust war cool. Sie belegte Literatur nach 1800, KInder- und Jugendbuch, im Nebenfach Romanistik und Linguistik.
Was ihr gefiel, war Linguistik. Ansonsten war das Studium nicht das, was sie sich erhofft hatte. Sie lernte, mit möglichst wenig Aufwand durchzukommen und viel über Laute. Da gab es Labiale, das waren die, die man vorne am Mund mit der Zunge formte, ganz kurz bevor sie aus dem Körper kamen, spürte, auf der Schwelle nach draußen. Irgendwie hatte das Lauten etwas mit der eigenen Grenzbestimmung zu tun, das erklärte ihr so einiges, es geht eben nicht nur um die Haut, die die Grenze nach Außen ist, sondern um das ganze Ich als Klangkörper, als Instrument der Seele, das Universum ist eine Sinfonie, alles ist in Bewegung, jeder Ton mit seiner Welle, die irgendwo anfängt, sich bricht, verliert und irgendwo hingeht.
Mama. Der Innerste Laut das M. Laut der Mitte, weich und warm. Wenn man M sagte, fühlte man innen. Das MMMMM in einer Rede, wenn man kurz überlegt. Ganz bei sich, besinnt man sich - im wahrsten Sinne des Wortes. Ein M ist der innere Laut und das laute Innere. Menschzentrum.
Ganz anders das N. Das N, so nah es im Alphabet am M ist, ist weiter vorne, verkrampfter, die Zunge wird hart beim N, biegt und drückt sich an den Gaumen. Im N ist das Nein und Nicht und Nie. Im N ist die hart an den Gaumen gedrückte Zunge. Die Natter. Der Neid. Aber am Ende eines Wortes läuft macht es weich, läuft es, bewegt es, geht es nach vorne, in die Zukunft, macht aus dem Wort eine längere Sache. Verben sind mit n hinten, weil sie dauern, tun. Und steht es es vor dem G, wie im Anfang, ist es das Gefühl, ist der Anfang zu Ende, hat gedauert, ist aber mit dem G abgewürgt. Der Prozess ist das N, das G ist der Würgelaut. Der Anfang ein beendeter Beginn einer andauernden Sache. Oder das Ing und das das Ung. Frühling, Flüchtling, Umgebung.
Am Anfang war er sehr süß gewesen, ein Kavalier, hatte ihr Feuer gegeben und als sie sich am Abend in dem Weinkeller aus Versehen den Wein über das T-Shirt geschüttet hatte, hatte er seins ausgezogen und ihr gegeben. Ein himmelblaues Poloshirt, ihr war es viel zu groß, nass unter den Armen von seinem Schweiß. Es passierte in dem Moment, als er da in seinem Unterhemd mit den speckigen Armen an dem kleinen runden Tisch im Keller bei ihr saß und halbbesoffen das Glas hob. Er war so sorglos. Ihm war alles scheißegal. Das gefiel ihr. Der Gitarrist spielte so schöne Boleros.
Kennengelernt hatte sie ihn in der Schule, in der 13. Klasse, ein Freund einer Freundin, die er manchmal fickte, einmal auf der Party eines Freundes im Badezimmer auf der Waschmaschine. Er vercheckte teure Uhren und die Freundin erzählte ihr, dass er sein Motorrad vom Cannabis und Schmuck verticken gekauft hatte. Er war Sänger in einer erfolglosen Punkband. die in ihrer Stadt manchmal in dem einzigen Musiklokal auftrat, was es im Kreis gab. Er schrie fette Sau ins Mikro und trank zehn Bier auf Geschwindigkeit aus ohne abzusetzen. Eigentlich war er überhaupt nicht ihr Typ. Sie mochte keine Angeber, sie mochte keine Machos und keine arroganten Arschlöcher, die fette Sau sagten. Ihr Fall waren bis dahin eher die ernsteren, leiseren Typen gewesen.
Ein paar Tage später nahm er sie auf dem Motorrad mit in eine Diskothek, er trank drei Cola-Whisky und erzählte ihr, dass er unglücklich mit seiner Freundin wäre, er seit seinem 14 Lebensjahr mit ihr zusammen war, sie war ein Jahr älter als er und studierte inzwischen Chemie in Marburg, sie war nur manchmal am Wochenende hier. Er war mit ihr zusammen gekommen, weil ein Kumpel ihm erzählt hatte, dass ihre Mutter immer nackt staubsaugte. Sie hatten gewettet und er war sie besuchen gegangen. Ein einziges Mal hatte er sie bisher geküsst, davon war ihr schlecht geworden, sie hatte ihm gesagt, seine Lippen seien zu feucht und zu weich.
Er hätte Lust auf Zärtlichkeit, sagte er. Richtige Zärtlichkeit. Er sehnte sich nach einer Freundin, einer richtigen, die einen gerne küsst, sagte er. So eine wie sie, sagte er. Sie redeten lange, er saß ganz nah bei ihr. Sie spürte seinen Atem. Ihr Gesicht brannte. Als sie das erste Mal zusammen schliefen, war das auf einer Matratze in seinem Keller, es war stockdunkel und roch nach Sauerkraut und sie setzte sich auf ihn. Sie sah nichts, spürte seinen weichen Bauch. Seinen Schwanz durfte sie nicht anfassen, er fummelte ihn in sie rein. Dann war schon alles nass. Es roch nach Champions. Er sah sie nicht mehr an, als sie aus dem dunklen Keller nach oben zu den anderen gingen. Danach hörte sie ihn lachen, als sie auf der Toilette war. Dann zwei Wochen nichts von ihm.
Sie wartete jeden Tag. Die Zeit stand still. Sie fühlte Schmerz. Scham.
Sie traf ihn in einer Nacht zufällig auf dem Nachhauseweg wieder. Er fragte sie, ob sie mit zu ihm kommen wollte, sie brauchten noch eine Person, er, ein Freund und sein Bruder starteten, um bei einem Juwelier in Wiesbaden die Scheibe einzuschlagen. Sie fuhr mit.
Das P und das T waren Verschlusslaute. An Wortanfängen kamen sie wie kleine Explosionen, Kraftpakete, die so rein und rausknallten, den Worten Wichtigkeit gaben. Paket. Zeit. Tipp. Jedenfalls hatte man beim Sprechen das Gefühl von Energie, als hätte man Brause auf der Zunge. Wie einer, der reinkommt und seine Muskeln spielen lässt. Hier bin ich. Ich bin Aristokrat. Zum Beipiel. Wenn man das Wort aussprach, war man schon eine Größenordnung. Oder beim Punkt, vorne und hinten, man war auf dem Punkt, exakt, ein Punkt eben, oder beim exakt, das ist einfach eine Autorität, K, V, Z, T, P waren wie kleine Nägel, die etwas festmachten, Rhythmus ins Fühlen brachten, Koordinaten, die einen hielten und bestimmten, wie bei der Kontrolle, da war der Nagel in der Mitte und hielt das Olle fest, das wollte und rollte und tollte, das Tr zurrte es fest und drohte und knurrte. Sie hatte sie verloren, die Kontrolle. Mal war sie ihm wichtig, mal nicht. Sie fühlte sich krumm, aber sie konnte nicht aufhören. Sie wollte von ihm gebraucht werden. Er würde sie dann lieben.
Deshalb stottert der Stotterer, dachte sie. Er bekommt keine Kontrolle über sich. Das Sprechen ist mehr als denken. Du bist weil du sprichst. Ein Partner ist ein P, ein explosiver Anfang, ein wohliges a, mit dem T fest und sicher, das Ner, rollendes R, das Halt gibt, kleines E, direkt aus der Brust, das N für eine längere Zeit, für das Werden und Außen, er ist jemand, auf den man sich verlassen kann, von dem man fühlt, wo er anfängt und wo er aufhört. Am Schluß das R. Das Ich. Das Du.
Ver ist etwas Stärkeres. Verursacher. Das Ver trägt die höhere Macht in sich. Steht auf der Treppe ein paar Stufen höher. Ver ist eine Tat, man verheimlicht, verbietet, verleugnet, man tut etwas mit etwas oder jemandem.
Ver ist groß, Verbote sind groß, Verluste sind groß, Verleumdung ist groß, Vertrauen ist groß. Die Versuchung ist groß.
Verdammnis verdammt alle und ewig.
Ich sage, ich liebe dich, mein R liebt dich. Dann wurde ich verliebt, mir die Liebe auferlegt, eine höhere Macht, die über mich bestimmt.
Hätte sie sich nicht verliebt, hätte sie sich nicht verloren.
Das Ver ist verpflichtet, einen Täter und ein Opfer in sich zu tragen. Da ist etwas Stärkeres, das verleiht Macht und raubt Freiheit, verliert Unschuld und Beherrschung. Das Ver ist Hirarchie. Ein Ver vorne und ein heit hinten sind immer große Worte. Vergangenheit. Verlogenheit. Vertrautheit.
Ver ist über Ich. Überich.
Ent nimmt was weg. Tut was. Es entschuldigt, entmündigt, enthemmt. Es ist in mir, auf Augenhöhe, kommt aus mir, aus meinem E, rutscht mit dem N über meine Zunge und durch die Nase und dann beende ich seine Aktivität mit meinem kurzen T. Ich entschuldige, enttäusche, entgleite, entsage.
Ent ist vom Ich kontrolliertes Weniger.
Be blubbt vor mich, gibt etwas, ist mein Akteur, ich bestimme, besinne, bedanke, bedenke, betöre, beschwöre, bedauere, beschließe, bemuttere, bemängele, bin weich, ich bin, nehme mir mein Recht, mich dazuzutun und mein Sein zu sein.
Be ist mein Tun.
Im Verhältnis zur Weltkraft.
Das Wort Kopf mochte sie nicht. Es war ihr zu kurz. Hart.
Pock. Pock. Kopf.
Da schwang nichts, da war nichts weich. Und alle Köpfe, die sie kannte, waren unangenehm. Spargel aß sie nicht gerne, Männer mit Glatzen, fleischfarbene glänzende, flutschige Eicheln in behaarten Männerhänden, sie umrundende Zungen von platinblonden oder schwarzen Frauen. Unter dem Bett ihres Bruders hatte sie mal ein Fotoalbum gefunden. So eins, wo man Klarsichthüllen nach oben umschlug und Foto über Foto einstecken konnte. Ihr Bruder hatte Bilder aus Pornozeitschriften ausgeschnitten und reingesteckt. Lauter große, rosafarbene Penisse vor Frauenmündern. Große rasierte Eier in Mündern. Verdrehte Augen. Spermatropfen auf Lippen, Zungen und Wangen. Kropf, Pfropf, verstopfte, harte Opf-Wörter, nichts Schönes, ein Gefühl, als haut man seinen Kopf gegen die Wand, sagt ein kehliges O und pustet Luft raus, weil es anstrengend warl. Kopf, keine Reibung, das K ein Klack tief unten in der Kehle, kurz und gepresst, ohne Liebe ohne irgendwas, sachlich. Im Kropf musste wenigstens noch das R durch den Gaumen, so ein kleines Knurren, das Ich, der Topf und der Zopf hatten Kraftlaute vorne, selbstbewusst, auch sachlich, aber irgendwie nicht so in der Kehle wie der Kopf, mit einem T oder Z fühlte sich der Anfang weniger nach krass, Kotze, Klo, kurz, Krone, klug, kalt, Katrin, Kurt oder kahl an.
Ihr kleinerer Bruder war so um die drei Jahre alt, da brach im Badezimmer die Zimmerdecke ein, als bei den Mietern von oben die Waschmaschine lief. Der Altbau, in dem sie wohnten, war morbide und die Waschmaschine der Türken über ihnen schon alt, der Schleudergang brachte den Boden in Schwingung. Der Putz fing erst in einem feinen Strahl an zu rieseln, dann krachte er in großen Brocken nach unten, riss den Wasserkasten ab und zerschmetterte die Toilettenschüssel. Ihr kleinerer Bruder hat auf dem Klo gesessen, mit auf die Knie gestützten Ellensich selbst. Er wäre ums Leben gekommen, so sagten die Eltern später immer wieder, wenn nicht eine Freundin das ältesten Bruders reingekommen wäre und ihn aus dem Raum gezerrt hätte. Der Hocker vor dem Klo, auf dem der Stern und der Spiegel zum Lesen lagen, war unter einem großen Stück Stuck zersplittert. Das einzige, was von dem Raum noch übrig war, war ein DIN A4 großer Spiegel gegenüber der Toilette, der den orangenen Rand des Spiegel-Titelbildes aufgedruckt hatte den die Mutter so aufgehängt hatte, dass, wenn man auf dem Klo saß, das eigene Gesicht darin sah - umrahmt vom orangenen Spiegellayout -, oben drüber stand als Titel „Der Kopf des Jahres“.
Das Bad setzte man wieder in Stand, soweit man es mit einfachen Mitteln konnte. Die Badewanne war so eine mit verschnörkelten Entenfüßen aus Eisen, schon viele Male überstrichen. Irgendwann war sie mal Luxus und Reichtum gewesen. Inzwischen war die Emaille an vielen Stellen abgeplatzt, verdreckt und rostig, Ihre Mutter wickelte darin manchmal mit Kordel, Tapetenkleber und Wasserbällen runde Lampenschirme, die sie dann auf dem Flohmarkt oder Freunden für 30 Mark verkaufte. Das Bad war groß, früher war der Raum ein Schlafzimmer gewesen. Es gab wellig verlegten Salz-und-Pfeffer-Linoleumboden, das Klo in der Ecke wirkte zu klein, hatte einen losen schwarzen Plastikdeckel und war gelb vom Urinstein, man hatte es später eingebaut, als man dazu überging, Toiletten in der Wohnung zu haben und nicht mehr auf der halben Treppe, der Wasserkasten war hoch oben und man zog an einer Kordel mit einem verzierten Keramikgriff ab. Unten am Fuß der Toilette war ein dunkelbrauner Rand, sie schaute immer darauf, wenn sie länger auf der Toilette saß. Das kam selten vor, denn das Abschließen der Türe war verboten.
Die Eltern liefen gerne nackt durch die Wohnung, man war nicht spießig. Sie sah weg, wenn sie konnte, sie wollte nicht die Geschlechtsteile sehen, sie fand das hässlich, peinlich, der Pimmel vom Vater sah aus, wie er sich sprach, die Muschi von der Mutter sah alles andere aus als eine Muschi, eklig, ein Schlitz von unten hoch, blaurosa, mit wenigen gekrusselten Haaren, manchmal lag eins auf dem Linoleumboden, die Mutter hielt nichts von Intimrasur, sie trug auch die Haare unter den Armen lang. Ihre Nacktheit war so weiß, dass man das Wort Blösse fühlte, wenn man sie ansah, die vielen Leberflecke auf dem Rücken nannte sie ihren "Sternenhimmel". Morgens vor der Schule wurde kalt geduscht, das härtete ab und war gesund, oft saß die Mutter währenddessen nackt und mit verstrubbelten Haaren auf dem Klo und las dem Vater aus der FAZ vor. Wenn Freunde der Eltern übernachtet hatten, standen die auch morgens nackt im Bad, man putzte sich die Zähne zusammen und redeten über den Vorabend, da hatten alle getrunken und es hatte jedesmal irgendwelche Dramen gegeben, oft kam eine Schauspielerfreundin der Eltern mit riesigen "Quarktaschen", wie der Vater sie nannte, und wechselnden Partnern, Siggis, Brunos, Manfreds.
Irgendwann montierte die Mutter einen neuen Duschkopf aus cremefarbenem Plastik an. Der sah aus, wie der futuristische Schaltknüppel eines Ufos aus Star Wars und passte nicht zu der alten Wanne, durch Verdrehen des Kopfes konnte man einen Massagestrahl einstellen, da pulsierte der Strahl raus.
Sie war allein zuhause, schloss das Bad ab und ließ sich Badewasser mit ganz viel Badeschaum ein.
Da war kein Plan, kein Wissen, keine Angst, kein Nachher. Im freien Fall oder Aufstieg, ohne Gedanken, sicher, fest in sich, als wäre in ihr noch eine andere, die wusste, was zu tun war, die wusste, dass es richtig war, was sie tat. Sie hörte ihrem Körper zu, folgte ihren Händen, sie fühlte, wie ihr Herz raste und wollte in den Sog, der heiss war und brannte.
Als sie ihrer Freundin die Tür öffnete, war sie eine andere, es war eine andere Tür, die sie aufmachte, eine andere Welt, eine andere Freundin. Sie konnte nicht aufhören, zufrieden zu sein, sie spürte ihre Wirbelsäule, jeden einzelnen Knochen, es war, als wäre ihr Kopf leichter geworden. Da war etwas in ihr, etwas anderes, größer, eigen, stolz, das war frei, es konnte keiner sehen, keiner wissen. Das Gegenteil von Kopf. Ich bin. Ihr N. Gekommen. Zweimal ihr M.
Frau.
Wunder,
fester Rhythmus über die Zeit.
Muse und Mutter,
stark, zart, zäh,
Sein.
Frau.
Liebe,
große Kraft über die Zeit.
Schoß und Regel,
fest, sanft, wild,
Leben.
Camilla ist weißblond, hat Naturlocken. Ihre Haare sind magisch. Die Männer stehen drauf.
Früher war sie Tennissternchen, hatte es weit gebracht – fast ganz weit, so genau weiß ich es nicht, weil ich mich nicht auskenne, aber sie hat für Deutschland irgendwelche Wettkämpfe bestritten. Reich verheiratet hat sie ein Leben ohne finanzielle Sorgen geführt, 4 Söhne zur Welt gebracht.
Camilla kennt jeder, der in Frankfurt jemand ist, sie war auf jeder Party, auf der die Reichen, Einflussreichen und Schönen sich die Ehre gegeben haben, inzwischen wechselt man die Straßenseite, der Tennislehrer, dem man von ihr Grüße bestellt, lächelt verkrampft und meldet sich nicht mehr. Inzwischen ist sie zerspritzt und hyaluronaufgequollen. Versoffen. Der Hintern ist flach, der Bauch dick, die Beine dünn, Finger- und Fußnägel gelb.
Ihr Mann ist eines Tages einfach ausgezogen aus dem gemeinsamen Haus mit der Toilettenschüssel aus Messing. Nach ein paar Wochen hat sie im Internet einen Opernsänger aus Darmstadt kennengelernt, der ist dann bei ihr eingezogen. Für ihn chattet sie in Sexchats, sitzt am Esstisch mit dem Laptop, die inzwischen jugendlichen Söhne machen sich eine Aufbackpizza in den Ofen. Einer arbeitet in einer Waschanlage, der andere least und vermietet Luxusautos, der dritte hat die Schule abgebrochen und hat Ärger mit der Polizei, der Kleine ist unter der Woche auf einem Internat, welches der Vater bezahlt.
Fiona ist brünett, trägt die Haare offen, Mittelscheitel. Sie fährt nur Fahrrad und lebt nachhaltig. Sie berechnet einmal im Monat ihren ökologischen Fußabdruck bei Global Footprint Network. Sie steht auf den Nachhaltigkeitsindikator, der ihr sagt, wie viel Fläche sie benötigt, um ihren Bedarf an Ressourcen zu decken. Sie achtet auf die Art und Herkunft ihrer Lebensmittel, kauft unverpackt, hat weder Auto noch fliegt sie, kauft nur, was fair produziert ist und repariert, was kaputt ist. Sie gendert und achtet auf gewaltfreie Kommunikation.
Fiona ist gebildet, witzig, eine Frau zum Pferde stehlen. Das hat ihr Mann ihr zum Geburtstag geschrieben. Valentinstag feiern sie nicht. Das ist eine typisch amerikanische Erfindung zum Konsum anleiern. Bei ihnen wird es auch kein Halloween geben, wenn das Kind kommt, auf das sie schon so lange warten.
Wenn sie durch den Wald geht, denkt sie fick mich, fick mich, fick mich. Sie hat sich einen Dildo bestellt, der ist aber nie angekommen. Manchmal denkt sie, die Nachbarin hat ihn vielleicht. Die sieht in der letzten Zeit son entspannt aus, wenn sie den Müll runterbringt, den sie nie trennt.
Sie findet es gut, dass der Diskurs um die Vulva endlich auch in den sozialen Netzwerken angekommen ist. Viel zu lange gab es überall nur Schwanz und Penis und Huren. Da geht es um revolutionäres Potential, um Frauenrechte. Ihre eigene Vulva hat sie fotografiert, die hängt in Salzteig im Flur. Vulva ist ihr Wort. Sie sagt es gerne vor sich hin und fühlt das vu aus dem Bauch und das va aus dem Herz.
Petra lebt seit achtzehn Jahren mit ihrer Frau zusammen, ist zurückhaltend, ohne Allüren, trägt kurze Haare, blasser Teint, Klamotten neutral, sie spricht leise und ihre graublauen Augen bleiben meistens ernst. Petra ist Leiterin der Abteilung Kundenaquise bei der Allianz. Wenn ein Arschloch sie anmacht, was so gut wie nie vorkommt weil Männer sie nicht anmachen, tritt sie direkt zu. Sie hat den grünen Gürtel in Krav Maga.
Mit ihrer Lebensgefährtin hat sie eine Tochter, die ist zwar erst fünfzehn, sieht aber aus, als wäre sie dreiundzwanzig. Im Sommer ist sie gegen den Willen ihrer Mütter mit ihrem zehn Jahre älteren Freund Nikolai und gefälschten Papieren nach Ibiza geflogen und hat beschlossen, die Schule abzubrechen. Sie will jetzt eine Ausbildung als Friseurin machen und später Maskenbildnerin werden, ausgefallene Make Ups sind ihr Ding. Nicht nur bei ihren Freundinnen, sondern auch zum Beispiel in der Maske der Theateraufführungen der Schule hat sie sich damit einen Namen gemacht. Mit ihren YouTube-Videos hat sie schon 100.000 Follower und wird auf der Straße häufig angesprochen.
Petra ist tapfer. Darauf legt sie keinen Wert, sie ist es einfach. Sie findet es richtig, vorne mit t anzufangen, mit dem a aus der Mitte zu kommen und in der Mitte mit pf auf alle zu pfeifen, mit dem er ein starker er zu sein.
Karin ist verwitwet. Ihr dreienzwanzigjähriger Sohn hat sich mit dem Motorrad totgefahren und danach ist ihr Mann noch stiller geworden. Er fährt jeden Tag nach der Arbeit zu ihrem Kleingarten und gräbt dort um bis es dunkel wird. Cholerisch ist er nicht mehr. Karin muss in eine psychiatrische Klinik. Die jüngere Tochter bringt sie hin. Nach drei Monaten geht es langsam bergauf. Heute hat die Tochter den Kontakt mit ihr abgebrochen. Sie erträgt nicht, dass die Mutter nie für sie da war und nur noch um den Bruder getrauert hat. Karin versteht das.
Mit 57 Jahren stirbt ihr Mann an einem Herzinfarkt. Er liegt einfach morgens tot neben ihr. Sie ist froh, dass es so still und plötzlich und ohne großes Leid passiert war und nicht wie bei dem Sohn ein halbes Jahr Wachkoma, einen offenen Schädel und eine Million Momente zu ertragen gab. Aber es ist ohne ihn noch leerer in ihrem Leben. Sie fängt an mit Yoga. Heute unterrichtet sie psychisch kranke Frauen im nahegelegenen Waldkrankenhaus. Die Strecke fährt sie jeden Tag bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad.
Im Sommer reist sie nach Jüst. Sie liebt die Nordsee, die Wildheit der Wellen, die Ruhe, die jodhaltige Luft. Sie mietet sich immer bei der gleichen Adresse ein und regelt so jeden Sommer schon ihren Aufenthalt für den nächsten. Die kleine Pension hat Strandkörbe direkt am Strand. Sie setzt sich morgens früh nach dem Frühstück in ihren und bleibt dort bis abends und schaut den Wellen zu.
Traurig ist nicht nur ein Wort, denkt sie. Es hat das tr vorne, wie sich trauen, das au geht durch Herz und Bauch und das ig macht es zum Sein. Hinter jedem ig ist einer, der etwas bedenkt und in seinen Schrank stellt. Es traut sich nicht und geht auch nicht vorbei. Wenn sie traurig wäre, dann gäbe es einen Schrank für sie.
Auf dem Weg
Das erste, was ihr einfällt, ist eine Nacht am Meer. Sie sind zwei Tage im Auto mit dem Wohnanhänger unterwegs gewesen, um in den kleinen Ort in Frankreich zu gelangen, in dem sie auf dem nahegelegenen Campingplatz jedes Jahr mindestens vier Wochen Sommerurlaub machen. Es ist spät, und sie stellen den Wohnwagen für die erste Nacht einfach notdürftig auf den Platz, den sie immer schon für das nächste Jahr reservieren, wenn sie abreisen. Das Vorzelt bauen sie erst am nächsten Tag auf.
Ihr Vater ist in bester Stimmung. Er nimmt die Mutter in den Arm und sagt, kommt, wir gehen nochmal schnell ans Meer, das muss sein, was meinst du, mein Frauchen. Die Brüder haben keine Lust. Die Mutter sucht noch schnell andere Schuhe und der Vater wendet sich ungeduldig ihr zu und sagt, auf, mein Mädchen, dann gehen wir halt zusammen, du gehst mit mir, auf dich kann ich zählen. Er nimmt ihre Hand und sie freut sich, weil er es erwartet. Sie hat auch ein schlechtes Gewissen, denn die Mutter kommt eilig ohne die anderen Schuhe hinterher.
Sie rennen fast, so schnell gehen sie über den Holzsteg durch die Dünen. Es riecht nach Nacht, nach der Hitze vom Tag und nach Pinien. Die Grillen zirpen so laut, dass sie ihr Angst machen. Wo die Bäume aufhören und der Steg in die Dünen führt, ist es auf eine dumpfe Weise still, als hielte jemand eine Decke über die Welt. Als sie über die letzte Düne gehen, bricht das Tosen des Meeres über sie ein, als wollte es sie überrollen. Sie bleiben stehen, benommen von der Wucht des Windes und ihr Vater breitet die Arme aus. Trotz der Nacht ist es so hell, dass sie Schatten werfen, der Himmel, Sterne und Mond sind überall und nehmen sie einfach auf in ihr Schauspiel. Weit hinten sieht man im Schwarz des Meeres weiße Schaumkronen, die sich hüpfend in ihre Richtung bewegen. Das Wasser ist viel weiter weg, als man es hört, die Ebbe ist am tiefsten Punkt.
Sie ziehen die Schuhe aus und springen vom Steg in den Sand. Ihr Vater fängt an zu rennen und zieht sie hinter sich her durch den Wind. Sie versteht nicht, was er ruft, weil das Meer so laut ist, aber er deutet aufgeregt nach unten in den Sand, bleibt stehen und springt herum. Schau, es glitzert. Er wühlt seine Füße durch den feuchten Sand und wirft ihn hoch, tatsächlich funkelt es überall. Meeresleuchten, das ist das Wasser, ruft er, wir gehen baden, und zieht sich die Kleider aus. Die Mutter hat Angst und will nicht, er ruft ihr zu, na los, mein Mädchen, ich weiß, du traust dich, das Meer leuchtet für uns, da müssen wir rein.
Es ist ein falsches Gefühl, sich vor den Eltern auszuziehen, ihr Körper leuchtet so weiß, als wäre er aus Papier, ihre kleinen Brüste, das peinliche Dreieck zwischen den Beinen, sie schämt sich, aber sie lässt sich nichts anmerken und rennt so schnell sie kann in Richtung Meer, damit ihr Vater sie wenigstens von vorne nicht nackt sehen kann.
Die Wellen sind plötzlich da, kalt, schwarz, mächtig, viel größer und härter als sie dachte, sie kann sie kaum sehen, kann ihre Geschwindigkeit und Entfernung nicht erkennen und stolpert blind in sie rein, hinter sich ihr nackter Hintern in den Augen des Vaters, vor sich das Tosen des unsichtbaren Meeres, bekommt Ohrfeigen, einen Schlag ins Gesicht, verschluckt sich, plötzlich ist eine große schwarze Welle direkt vor ihr, sie taucht durch, wie sie es sonst bei Tag gerne macht. Es gibt keine Zeit, nachzudenken, nur Angst vor der Wucht und vor den Quallen, die am Tag manchmal tot am Strand liegen.
Das Gefühl, ganz nackt im tosenden Wasser zu sein, ohne den kleinen Bikini, der ihr Schutz zwischen den Beinen gibt, ist so fremd und gleichzeitig so schön, dass es sie überwältigt. Angst und Glück. Sie spürt ihren Körper, ängstlich und fest zugleich, ihre Haut, ihre Beine und Arme, die spitzen Muschelstücke unter ihren Füßen, die Gänsehaut im Nacken, abgetrennt von allem, allein in der Gewalt des wilden Wassers, das sie hochhebt und runterschmeißt, als sei sie nichts, was es wert wäre, geschont zu werden. Was bleibt ist die Frage, atmen, überleben, die Antwort ist die Ruhe nach der Welle, das Glitzern des Planktons, das sie in seine silbrigen Funken hüllt wie eine Heilige. Frage und Antwort. Ja. Ich bin.
Als sie aus dem Wasser geht, zurück in ihre Form, fühlt es sich an, als ist sie glücklich. Ihr Vater jubelt vor Stolz und Begeisterung und nimmt sie in den Arm. Sie legen sich zu dritt in den bitzelnden Sand und schauen in den Himmel. Ihre Mutter nimmt ihre Hand. Sie weiß. Alles ist gut.
Dass er aufhört, ist schwer zu ertragen. Es gibt keinen Abschied. Kein langes I, keinen Gedanken, keine Idee, keinen Moment, in welchem sie ihn mit ihrem Geist loslassen und ihrem D sanft zu Ende gehen lassen kann. Es gibt nur lange Trauer, hartes T und großes AU im Bauch und in der Brust. Frage und Antwort. Hätte ihm jemand gesagt, dass er eines Tages im Café Rotkelchen Hänschen klein singen würde, hätte er das nicht gewollt. Aber er findet Worte und Wissen nicht mehr. Sie sieht es in seinen Augen und in den sich auflösenden Gesichtszügen. Da sind noch Ahnungen, aber sie verlieren sich mit seinem Gelaut, mit dem Spüren der Worte. Er hört jeden Tag ein bisschen auf.
Er weiß nicht mehr, dass er um die Welt gesegelt ist und eine Firma geführt hat. Die Mutter wackelt aufgeregt mit dem Kopf. Ich habe zwei Adressen für Pflegeheime von meinen Chorfreundinnen empfohlen bekommen, die gut sein sollen. Vorgestern hat er in das Bidet gekackt. Manchmal suche ich ihn, nachts, wenn ich aufwache, im Garten, weil er den Weg zur Toilette nicht findet. Ich schaffe das nicht mehr. Sie weint.
Sie hörte das Geschirr klappern. Sie hörte das eisige Schweigen. Streit. „Über allen Wipfeln ist ruh...“, flüsterte sie aufgeregt. Sie musste aufs Klo. Im Nebenzimmer ploppte der Gummistöpsel des metallenen Etagenbettes, der die Stange nach oben verschloss, Ihr Bruder pisste wieder da rein. Wieviel Pisse in so ein Bettgestell passte? Aber was hätte sie darum gegeben, auch einen Pimmel zu haben, den sie in irgendwas hätte reinhalten können um den Gang über den Flur jetzt nicht gehen zu müssen. Das gab jedesmal einen Ärger. Sie hatten alle drei immer Angst. Immerangstältererbruder, immerangstjüngererbruder, immerangssie. Wenn Streit war und wenn kein Streit war. Und immer mussten alle immerangst aufs Klo.
Der Vater war nicht der leibliche Vater des älteren Bruders. War das überhaupt ein Bruder? Fragte sie sich. Er war eigentlich ein Nichts. Das Wort Bruder. Sie formte es mit den Lippen. Das Br. Das U. Und den weichen Der. Er fängt weich an, mit dem B, ein zärtliches r, die weichen Lippen bringen es raus, es ist kein P, das die Lippen hart macht, ein tiefes u aus dem Bauch, kein bisschen im Kopf. Bruder kann man eigentlich kaum böse aussprechen.
Sie dachte darüber nach, ob der Bruder darüber nachdachte, was für eine Schwester sie war. Ob er darüber nachdachte, das eine Schwester wie schwitzen oder schwul oder Schwanz oder Schwamm oder Schwein anfing. Sie suchte nach dem Gemeinsamen von allen Schw’s. Die meisten hatten eine schwülstige, schwere Bedeutung. Sch am Anfang fühlt sich schon beim Sprechen so an, als schwappt was aus einem raus. Sie überlegte, ob er so etwas dachte, wenn er Schwester dachte. Dachte er überhaupt Schwester? War er überhaupt? Sie fühlte nichts beim Bruder, und er vermutlich nichts bei der Schwester. Sie waren zwei Nichtse nebeneinander, zwischen Menschen, die miteinander zu tun haben, gibt es normalerweise einen Zwischenmensch. Bei ihnen gab es keinen. Sie waren Warten.
Nach dem Schw die Ester. Das E war ja kein richtiges E mit hochgezogenem Mund, sondern eins, dass nach unten fiel, eher ein Ä, dann hätte es doch zum A gehören müssen, zum guten A, Schwaster.
Sie stellte sich vor, zwischen zwei Lauten lägen ganz viele Zwischenlaute, so wie zwischen zwei Zahlen immer noch mehr Zahlen sind, es gibt immer noch kleinere Schritte, so trügerisch sind Zahlen, man denkt, sie sind fest und bilden ein Netz, aber zwischen ihnen gibt es den Abgrund, die Unendlichkeit. Und weil das keiner aushält, schreibt man einfach ein E, rundet auf oder ab, wie bei den Zahlen, egal, ob es ein hingerotztes E ist, was nichts mit dem erhebenden E zu tun hat, was einem den Mund nach oben zieht, wenn man es spricht, was die Seele nach oben zieht, wenn man es spricht. Dann das R. Wo eigentlich die Kehle rollt, man ein bisschen knurrt und seine Kraft spürt, kommt nur ein etwas geringschätzendes Eah raus. Br(rollt)uder(eah). Das rollende R und das Eah. So wie sie beide, Bruder und Schwester, Bruder U-Kraft und Schweasteah-.Schwulst, sie waren sich Nichts.
Am nächsten Morgen war die Mutter nicht da. Das kannte sie. Sie stellte Frühstück auf den Tisch. Haferflocken, Kakao, Milch. Sie dachte an die Zwischenlaute, an die Zwischenzahlen, an die Zwischenmenschen. Ihre Zwischenmenschen zur Mutter waren weg. Es war immer wieder ungewohnt. Der Vater kam viel zu freundlich in die Küche, Guten Morgen, du hast Frühstück gemacht, du bist meine beste und liebste Tochter. Dann fuhr er ins Büro.
Sie suchte Schuhe, die sie anziehen konnte. Schuhe für die Schule. H statt L. Es musste eine Ähnlichkeit geben. Und es musste einen Unterschied geben. Schuhe sind mit dem H Halt. Schule mit dem L Lehre. Linie. Leben. Leere. Sie hatte keine Freundinnen. Sie war schüchtern, sie traute sich nichts, sie war hässlich. Vor allem wenn sie lachte. Sie lächelte einfach immer. Sie war die, die immer lacht. Sobald sie etwas gefragt wurde, vergaß sie alles. Auch wenn sie sich meldete passierte es ihr manchmal, dass sie, wenn sie dran genommen wurde, nichts mehr sagen konnte.
Den älteren Bruder hatte die Mutter von einem bekommen, der sie und erst recht kein Kind wollte. Ihre Entstehung war eine Betriebsfestromanze, der Vater war der Chef der Mutter gewesen. Auf der Weihnachtsfeier hatte der Vater, der kurz vor der Hochzeit mit seiner Verlobten stand, ihre Mutter befruchtet, nach reichlich Alkohol hatte er sie auf dem Friedhof gegenüber der Bushaltestelle von hinten genommen. Sie stellte sich oft vor, dass es so einen kleinen Urknall gab, wenn ein Spermium ins Ziel ploppte und sich mit dem Ei vereinte. Hatte es eine Veränderung der Atmosphäre bis ins Universum gegeben? Ob etwas durch die Unendlichkeit zuckte, was verkündete, es ist eine Schwester geboren, oder eine Zähluhr irgendwo eine Nummer weiterklackte? War das der Moment, in dem ihre Seele angefangen hatte?
Lieber Gott.
Wie entstehen Töchter? Ich stelle mir vor, das sind Bausätze, wie die Legos von meinem Bruder.
Niemals sah sie die Geschlechtsteile ihrer Brüder. Aber die des Vaters und der Mutter. Man benutzte das Bad gemeinsam und durchquerte auch den Flur nackt. Die Mutter saß nackt auf dem Klo, während sie duschen mussten. Kurz warm, dann kalt, das war gesund. Sie hasste den Geruch von Mutters Klositzungen, die rochen nach süßlicher Scheiße, hellbraun und warm. Sie mochte nackte Körper nicht. Die weiße Haut ihrer Mutter mit den vielen Leberflecken drauf ekelte sie. Aber auch der Vater, mit dem blauroten Pimmel und den vielen Haaren, der wurde schnell wütend, auch nackt, alle hatten Angst vor ihm, irgendwie war es so peinlich, ihn anzusehen. Wenn Leute andere nicht angucken können, ist es nicht, dass sie unsicher sind, sie wollen einen nicht sehen. Und bei ihrem Vater ekelte sie sich, dass sie durch seinen verschrumpelten, blauroten Schwanz geflitzt war. Auch für die Gäste stand das Bad immer offen. Große Brüste und haarige Pimmel und fremde Haut um sie herum. Dabei redete man über Kunst, Theater. Man trank und rauchte und sang Tucholsky Chancons. Und dann gab es irgendwann Streit. Sie hasste diese Gefühlsduseleien kurz davor. Und sie hasste Mundgeruch und zu lautes Lachen.
Verlassen, dachte das Mädchen, ist ein merkwürdiges Wort. Es bedeutet, dass man ver lassen ist, dabei meint es doch, dass man sich geborgen und sicher fühlen will. Ver führt immer von irgendwo nach irgendwo, lassen ist etwas, was man nicht tun konnte, nur lassen, auf jeden Fall braucht man ein anderes Verb für einen Sinn. Lassen, heißt alleine nichts. Man lässt jemanden in Ruhe oder man lässt etwas geschehen. Vielleicht hatte das Verlassen damit zu tun, dass man alleine nichts ist, sich selbst verlassen hat und einer anderen Person die Verantwortung für sich überlässt.
Wenn ein Kind gemacht wird, fragte sie sich, dann entsteht es ja schon im Rhythmus, im Rhythmus vom Rein und Raus. Wie Plus und Minus, Rein und Raus. Und so blieb es dann eigentlich immer. Einmal hörte sie ihre Mutter schreien und ihren Vater grunzen. Sie stand im Flur vor der Tür und hatte Angst. Plötzlich bemerkte sie das kühle Linoleum unter ihren Füßen. Ins Bett zurück wollte sie nicht. Unter ihrem Bett lag ein Einbrecher. Sie ging zu ihrem Bruder ins Bett.
Alles eine Kette aus Momenten. Sie hatte bestimmt schon im Bauch ihrer Mutter nicht auf eine Antwort gewartet. Sie hatte nicht die Frage gehabt und deshalb war sie auch nicht beruhigt und deshalb war sie nicht. Sie war kein Plus und kein Minus, sie war kein Rein und kein Raus und keine Frage und keine Antwort, sie war eine Tochter, in der Mitte ein Ch, ein Röcheln, als erstickte man. Beim Sohn faucht und röchelt nichts, da wird niemandem die Kehle zugedrückt, Sohn ist ein sanftes, zufriedenes Wort, es macht einen stolz und glücklich, wenn man es ausspricht, groß und rund und erfüllend. Sohn. Einmal sagte die Schönschrift Lehrerin zu einer Kollegin, sehen sie mal, die ist nicht einmal gekämmt, die Arme.
Eines Nachts lag sie wach und aus dem Wohnzimmer kam die schönste Musik, die sie jemals gehört hatte. Es war, als ergoss sich alle angestaute Sehnsucht in ihr dunkles Zimmer. Es floss aus ihr heraus und sie weinte große, heiße Tränen, die sie über ihre Wangen fliessen fühlte und mit jeder einzelnen fühlte sie sich leichter. Sie war glücklich. Die klare Stimme hüllte sie in eine warme Decke, nahm sie auf ihren weichen Schoß und wiegte sie in festen Armen. Nie zuvor hatte sie sich so gefühlt.
Am nächsten Tag hatte sie Geburtstag. Die Mutter stand mit einer Kerze an ihrem Bett und sang ein Lied. Auf ihrem Geburtstagstisch stand ein Geburtstagskuchen. Daneben lag ein Geschenk. Es war eine Schallplatte.
Nächste Woche schließt seine Schule und wahrscheinlich so einige andere in Frankfurt. Der Shutdown kommt. Hoffentlich, denn dann sind wir bald mittendrin. Mich nervt Spekulieren. Meine einzigen Sorgen sind meine Eltern und das Einkaufen. Tatsächlich gibt es keine Nudeln mehr. Klopapier habe ich bekommen.
Meine Schwägerin hat ganz aufgeregt geschrieben, dass heute ihre Kita geschlossen hat. Es gibt einen Vater mit Verdacht auf Corona und alle müssen 14 Tage in Quarantäne. Sie hat sich wund telefoniert, aber niemanden erreicht, keinen Hausarzt, nicht beim Gesundheitsamt.
Das ist alles bizarr.
Ich war mit meinen Eltern beim Arzt, bei der Bank und in einem Handygeschäft, Mamas Handy funktioniert nicht, sie hatte über das halbe Jahr einen anderen Tarif in Südamerika. Papa ist in seinem grauen Anorak und mit einem etwas schief sitzenden vergilbten Cap der Allianz-Versicherung auf dem Kopf mitgekommen. Er nimmt auch im Sommer Handschuhe mit. Seine Hände sind immer kalt. Die Gesichtszüge verschwimmen, der Blick ist manchmal ängstlich, beim Verlassen des Geschäftes hat er zu meiner Mutter gesagt, „du brauchst doch noch so ein Reinsprechgerät“. Er meinte ein Handy. Meine Mutter hat aus ihrer zerschlissenen roten Plastiktasche ein altes Handy rausgezogen und meinte, ich habe hier eins.
Am EC Automaten hatte sie die Bankkarte nicht dabei und wusste ihre Kontonummer nicht mehr. Sie versuchte es mit Papas. Sie schreibt an ihrem Buch und ruft ständig an, weil irgendwas mit Word oder dem Computer nicht funktioniert. Ich fahre dann hin und arbeite mit ihr daran, wenn ich Zeit habe. Als ich sie an den Termin beim Neurologen mit meinem Vater erinnert habe, wurde sie ungeduldig und meinte, sie muss dringend zu Fielmann, ihre Brille sei kaputt.
Papa hat davon gesprochen, sein Auto wieder anzumelden Das ärztliche Fahrverbot sei Unsinn, er könne das einschätzen, es ginge ihm schon viel besser. Manchmal weiß er meinen Namen nicht. Immer mehr wird zu Dings. Neulich sagte er zu meinem mittleren Sohn, er hätte das Gefühl, in sich eingesperrt zu sein. Es fehlten ihm die Worte, um rauszukommen.
Bizarr ist das Wort schon in sich. Das B geht ganz einfach vorne über die Lippen, weich und mild, das I ist der Gedanke, hoch im Kopf, das Z geht Zick Zack und wechselt die Richtung zum A, klar und gerade, normal. Dann das doppelte R. Knurren. Drohung. Gefahr.
Verliebt ist die mächtige Vorsilbe Ver. Das Ver versetzt das Lieben in eine unbestimmte Richtung, nicht so zielgenau, es wird verloren, verboten, verbunden, verlassen, verzögert, verdammt, irgendwohin. Vertraut. Da ist schon im Wort, dass es enttäuscht wird. Das Trauen in Verbindung mit dem Ver kann nicht klappen. Das Ver hat etwas beliebiges.
Jedes Ver hat immer ein Subjekt und ein Objekt in sich. Als bringt das Ver das Ich in Relation. Sind Vorsilben Ortsbestimmungen? Relativitätstheorie? Sie fragte sich das.
Ein Ich traut und es gibt da etwas, dem es vertraut, von oben bestimmt. Das Ver hat im Unterschied zum Be noch einen Kick Irrtum mit dabei. Man liebt, man ist verliebt, liebt irgendwie Ver.
Das Ver ist Verhinderung. Es verhindert Autonomie durch etwas Göttliches, das über dem Ich wirkt.
Das Ver ist Verlust. Verlieren. Verschwinden. Ohne Lust gelassen, verlieren gibt es nur mit Ver, lassen ist alleine nichts von Bedeutung, verschwinden ist schwinden ohne es zu tun. Ich kann etwas verschwinden lassen, dann bin ich das Große, Übermächtige. Wenn ich verlasse, bin ich das große Verhältnis des kleineren Subjektes, das ich verlasse, ich verlaufe mich, verliere den Verstand, verstehe, stehe nicht bei mir, sondern da, wo ich etwas Ver stehe.
HInter jedem Ver steht Relativität und Subjektivität. Relativität, weil etwas in Schwächeres und Stärkeres eingeschätzt wird, Subjektivität, weil es immer ein Ich gibt, mit dem das Ver etwas macht.
Das Ver ist der Faden des großen Puppenspielers. Sie sprach es vor sich hin. Verloren, verspottet, verzweifelt. Das V geht scharf und mit Druck nach vorne raus, aus zusammengekniffenen Lippen. Zusammen mit dem e, gesprochen wie ein Äh, und einem nicht einmal rollenden grollenden R, landet es auf dem Boden vor dem Ich. Batsch. Hingerotzt wie Spucke. Selbst verzaubert oder verzückt hat etwas Fremdbestimmtes, etwas Verrücktes, ein kleineres Ich, das verrückt wurde, Verständnis, da hat jemand einen Stand, da ist etwas Höheres, das uns stehen lässt.
Der Idiot hatte sich verliebt. Die Mutter weinte ständig und zog sich morgens nicht mehr an. Als er sie verließ, ging sie in die Badewanne.
Die Aufmerksamkeit ist gerade, auf Augenhöhe, bereit, das Eit immer wach, frisch, geht nach draußen, Bescheidenheit, Fröhlichkeit, Angelegenheit, Wirklichkeit, Beschaffenheit, Ehrlichkeit, Wahrheit.
Das Ung ist unten, geht nach innen, ist eine innere Sache, tief und schwer, Einschätzung, Entschuldigung, Beleidigung, Beglaubigung, Entmündigung, Versuchung, das ung wiegt schwer, hat Moral mit dabei, Gefühl und Verstand, Werte, Maßstäbe, herrschende Normen und Gesetze.
In verborgenen Ritzen
suche ich nach Deiner Intimität,
fliegt mein Atem über Deine Haut,
ich will
mich
mit dir.
Er war der Meinung, sie hätte die Karten nicht für ihn gekauft.
Zur Schuld fiel ihr nicht viel ein. Wenn man es sprach, war es nicht so hart. Es fühlte sich fast weich an. Das Sch verscheucht das Unschulige, Uld, das U aus der Tiefe, Urgefühl im Bauch ohne Idee, Uld war die Geduld, die blieb und wartete.
Schuld.
Bis zum weichen Ende.
Bis man zerbricht.
In dir bin ich geboren.
In dir kann ich wohnen.
Geborgen dich bergen.
Ein wunderbarer Ton, Komposition
aus dir und mir.
Leben, geben, lieben,
das Gegenteil von Angst.
Lieblingswörter jetzt und hier in dieser Zeit, in Presse und Medien, in jeder Talkshow oder im persönlichen Gespräch zuhause, sind in der Tat und tatsächlich. Es ist tatsächlich so. Oder tatsächlich ist es anders. Es ist in der Tat Mode. Eloquenz, Anspruch auf Wahrheit, Anspruch auf Neutralität, es hat was Vertrauliches, wir sagen oder bekommen zu hören, wie etwas tatsächlich ist, wir werden eingeweiht in die tatsächlichen Umstände, die aber eigentlich anders dargestellt werden, der Sager steht drüber über dem Zuhörer, denn er sagt, wie es tatsächlich ist, ein bisschen mit hochgezogenem Mundwinkel. Es macht einfach ein besonderes Gefühl, es zu sagen, denn tatsächlich, das war so viel Bewegung, die Tat, das säch, die Sache, und das lich, das mit dem I Kopflaut und dem Ch Fauchlaut nach hinten raus seinen Anspruch auf Wissen fühlen lässt, damit keiner, auch man selbst nicht, auf die Idee kam, anzuzweifeln, was da gesagt wird,. Im Mund das Gefühl, weiter oben zu stehen und den, dem man es sagt, auch ein Stück weit mit hoch zu nehmen über die anderen, die nicht wissen, wie es tatsächlich ist. Tatsächlich ist der Wisser, tatsächlich steht über dem Nichtwisser, tatsächlich ist zornig, weil es eigentlich nämlich nicht weiß, wie die Dinge wirklich sind.
Zorniger Zorn fühlt sich beim Sprechen an, wie er ist, das Z stark und scharf, so, sieht auch schon so aus wie ein Blitz, der einschlägt und einen durchfährt, das O Schreck- und Wundervokal, das R Knurren, Ich, am Ende ein N, lässt ihn nach vorne laufen, noch ist er nicht da, wächst, führt ins Ungewisse, geschieht erst noch, anders als die Tat, so überschaubar mit den beiden T Anfang und Ende.
MIt dem Ig begrenzte sie ihn und gab sich ein weiches Ende, wer zornig ist, beruhigt sich schon gleich wieder, besser, nur zornig zu sein, wie ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, das am liebsten Kartoffelpuffer mit Apfelmus isst. Der I Gedanke hält den großen Zorn mit dem Würge G in der Kehle fest, es gibt einen Menschen hier, der den Zorn, der zur Tat führt, zornig festhält.
Die Tat. Sie ist kurz. Sie ist getan. Sie fängt an, sie hat ein Ende. Wer hat was bemerkt, gesehen, man schildert den Tathergang, ist Tatzeuge, es gibt eine Tatwaffe. Die Tat ist sachlich, ohne Interpretation. Frei von einem Vorher, frei von einem Nachher. Nur für sich, unsozial, Selbstläufer, ganz ohne Bewertung. So wie sie sich spricht. Ein T, ein A, ein T. In der Tat.
Es geht in einem düsteren Fahrstuhl nach oben. Viel zu schnell. Samuel schaut mich an und wartet auf meine Reaktion. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben.
Der Fahrstuhl stoppt ruckartig und ich schiebe eine alte Holztüre zur Seite. Es ist dunkel, aber man sieht ein bisschen was. Jedenfalls soviel, dass ich erkennen kann, dass wir nicht ganz oben sind, sondern im 3. Stock. Ich schiebe die Tür wieder zu und wir drücken mehrere Male auf den Knopf ganz oben. 7ter Stock. Wir wollen aufs Dach. Wir fahren nach unten.
Dann bin ich in einer Hotellobby. Es gibt in der Mitte einen Swimming-Pool. Ich liege im warmen Wasser und auf mir sitzt Sarah. Ich frage sie, ob ich ihre Brüste anfassen darf. Sie lacht und sagt klar. Ich nehme ihre Brüste. Sie sind prall und fest und springen in meine Hände. Die Menschen stehen um den Pool und lachen. Dietrich auch.
Am Morgen spüre ich sie noch.
Brüste sind wie Lüste aber wolllüstiger. Tierisches Br, fleischlich. Brauchen, brummen, bräsig, Brüste. B blubbt aus dem Mund nach vorne, ein bisschen lustvoll, es gehört nicht dem Verstand, ist ein bisschen unkontrolliert, das r ist das kleine Knurren ICH.
Gewicht ist gewichtig.
Ge macht Wicht zum Zentner.
Meisselt in Stein.
Ge vor dem Wicht macht wichtig,
T am Ende gibt Ende.
Markiert,
benennt,
schreibt fest.
Gewicht ist Maßeinheit.
Gesicht ist Antlitz,
Gemischt vermischt,
bestimmt,
Tatsache,
abgeschlossen.
Das T am Schluss macht den Sack zu.
Leicht ist frei.
Frei ist vorne Luft und hinten Ei.
Ohne Sack.
Frei fliegt, federt, findet, fahndet.
Frei ist R, Ich.
Lastlos.
Hebt sich hell und heil
wie fliegen,
schweben,
leben
in den Himmel.
Blau. Blaue Unendlichkeit. Freiheit. Frische. „Es ist ein gutes Gefühl, frei zu sein“, summte sie. Sie hätte sich gerne aufgelöst im Blau, wäre gerne aufgestiegen, immer weiter und weiter, wie ein Gasluftballon, lautlos, sanft und zielstrebig hoch hinaus, dahin, wo alles klein wird.
Sie dachte an das Gedicht von Ingeborg Bachmann.
"Blau der Fernen, der Zonen des Glücks mit den Wettern für mein Gefühl,
blauer Zufall am Horizont!
Und meine begeisterten Augen
weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund."
Ihr Handy machte Kuckuck. Eine SMS. „Ich liebe dich“. Ich dich auch, dachte sie. Ich kann dich nicht ertragen, ich kann mich nicht nach dir sehnen, du kannst mich nicht berühren, du kannst nicht mein Freund sein. Ich kann dich nicht pflegen, trösten, verwöhnen. Ich kann dich nur nicht beachten. Ich kann dich nur auslachen und verächtlich ansehen. Ich wünschte so sehr, es wäre anders. Ich wünschte so sehr, ich könnte lieb sein. Dir Kaffee ans Bett bringen. Dir dein Lieblingsessen kochen. Ich wünschte so sehr, ich könnte eine gute Fee für dich sein.
Aber dann käme keine SMS.
Sie antwortete nicht.
Der Fluch war da. Vielleicht war es wie bei Parfüm, und es gibt für jedes Wort eine Kopf-, Herz und Basisnote, beim Fluch fühlte sie die Gefahr, den schlangenhaften Zungenschlag des Fl, unten in ihrem Bauch das animalische U, die Basis dann das böse Fauchen des Ch in der Kehle. Fluch, Fluch. Oben unten oben. Vorne das Fl, zusammengepresste Luft, scharf ausgepustet, dann der Zungenschlag, das L, da schlägt er, da zuckt er, der Fluch, Fl, dann geht er nach unten, wird dunkel und tief, U, ursprünglich, animalisch. Hinten zieht das Ch die Mundwinkel nach außen wie bei einer Fratze und die Luft rauscht im Mundraum herum, verleiht dem Fluch etwas Fauchendes, Züngelndes, machte ein Geräusch, als scheucht man eine Katze weg.
Das Ver hängt sich davor, kommt von irgendwo und geht irgendwo hin. Am Ich vorbei.
Verflucht.
Form
Umschließt.
Gibt uns ein Außen, eine Begrenzung, Halt, Norm.
Norm ist das, was man zur Form erklärt.
Sprich sie, denk sie, die Form, sie umschließt dich, die Form ist warm, ein Körbchen, in das du dich kuschelst, fest, weich, sicher.
Es hat mir mal ein Bekannter erzählt, ein paar Bier zuviel hatte der getrunken, dass es ihn erregt, Vagina zu sagen. Er bekäme direkt eine Erektion.
V am Anfang geht scharf nach vorne, angriffslustig, bläst heiße Luft aus, entspanntes A, ganz frei und unverkrampft, das G drückt einem die Luft weg, ein bisschen Sadomaso, und das führt zum I, Extase, der Höhepunkt im Kopf, Na leckt die Zunge, berührt sich selbst, ein bisschen dreckig.
Lustvolle, freie Vagina. Eine Vagina fickt man nicht, Eine Vagina verlangt nach einem, hat ihre Würde.
Freundschaft
Gefangenschaft
Feindschaft
Bürgschaft
Meisterschaft
Schaft?
Was ist das?
Sch verscheucht, ist Reflex, oben und jagt weg, A ist innen, entspannt und gerade, F ist Ausgepuste, gespitzte Lippen, T ist Zungenschlag, hartes Ende. Schaft fühlt sich an, wie die Schublade, in die man etwas steckt. Man jagt eine Herzensangelegenheit in die Starre, legt sich fest, macht sich unbeweglich. Damit man von außen darüber sprechen kann.
Sprechen ist wie nackt durch den Raum tanzen.
In ihrer Paargruppe gab es einen, der redetet immer anstatt von Ich von Man. Man könnte das so oder anders machen, man hat immer so Vorstellungen, aber davon muss man sich lösen. Seine Frau schlief mit einem erfolglosen Künstlerfreund, der hatte ein Atelier in Frankfurt, sie malte auch. Es störte ihren Mann nicht, aber sie hatte die Sorge, dass er eines Tages gleiches Recht in Anspruch nehmen würde und mit seinerseits fremdging. Trotzdem konnte sie nicht mit dem damit aufhören, fuhr regelmäßig nach Frankfurt, betrank sich da mit ihm und blieb dann über Nacht. Ihr Mann fand es interessant, sich von Gefühlen wie Besitzanspruch und Eifersucht zu lösen. Er hieß Michael. Sie hatten drei Kinder.
Dass sie in die Paargruppe kamen, war ihr Wunsch. Sie weinte oft, hatte oft Schwierigkeiten, sich zu Wort zu bringen, konnte nicht auf die Autobahn auffahren, weil sie sich nicht in den fließenden Verkehr einfädeln konnte. Wenn sie irgendwo eingeladen war und es gab da keine frische Sahne, wurde sie wütend. Sie hieß Elisabeth.
In ihrem sehr schön eingerichteten Haus hingen überall kleine selbstgemalte Tuschezeichnungen. Man musste sich direkt davor stellen, um etwas darauf zu erkennen. Später erkrankte ihr Mann an Parkinson.
Ingrid kam mit Jörg, ihrem Lebenspartner. Er war Bratscher, sie Geigerin. Ihr Sohn aus erster Ehe lebte beim Vater. Zu seinem achtzehnten Geburtstag legte sie ihm ein Präservativ unters Kopfkissen. Er verlor nie ein Wort darüber, kam aber nur noch selten vorbei. Als eine andere Frau über ihre sexuelle Lustlosigkeit berichtete, konnte sie das nicht verstehen. Sie erzählte, wie schön sie es fand, wenn Jörg mit einer riesen Latte vor ihr stand. Aber sie fand sich zu dick. Sie versuchte ständig, nichts zu essen. Und wenn sie es nicht schaffte, war sie wütend, redete drei Tage nicht mit Jörg. Der litt darunter und erzählte viel von seinem Vater. Er hatte ihn nie gekannt. Der war nicht aus dem Krieg zurückgekommen und wurde als Held gefeiert. Jörg war immer verständnisvoll. Er hatte eine sehr tiefe Stimme.
Heike und Peter waren Eltern von acht Kindern. Drei hatte er mit in die Ehe gebracht. Dann hatte Heike Vierlinge bekommen. Ein Jahr später noch ein fünftes Kind. Sie rauchte viel. Das mochte Peter nicht. Er liebte ihren Geruch. Wenn sie geraucht hatte, konnte er sie nicht mehr riechen.
Wenn Peter sie zum Essen einlud, erwartete er danach Sex. Als sie deswegen Streit bekamen, schüttete er ihr im Restaurant ein Glas Wein über.
Sie mochte keinen Sex. Während der Therapie fingen sie an, sich zu "verstöpseln", so nannten sie es. Das bedeutete, sie legten sich nebeneinander und er führte seinen Penis in sie ein. Dann blieben sie still so liegen.
Nach einiger Zeit übernahm Heike die Leitung einer Tankstelle. Seinen LIeblingsbaum, einen großen Ahornbaum in ihrem Innenhof, lies sie fällen.
Ein anderer Typ war herzkrank. Bei einer Herz-OP lernte er die Anästhesistin kennen und die beiden verliebten sich. Er war ziemlich klein, sarkastisch, machte gerne Witze. Er hatte einen Notknopf in seine Brust einoperiert, auf den konnte man drücken, dann wurde sein Herz mit einem Stromschlag wieder zum Schlagen gebracht. Sie wollte Kinder. Er wartete schon seit Jahren auf ein Spenderherz. Jetzt sollte er eins bekommen. Das war für beide ein Problem.
Karrie war eine kleine sehr selbstbewusste Frau mit einem ausgeprägten englischen Akzent. Sie hieß eigentlich Magda, aber da sie mit viel Ehrgeiz Karriere gemacht hatte, nannte sie selbst sich so. Es kam für sie nicht in Frage, ihren Beruf für die zwei Kinder aufzugeben. Sie entwand mit Kaiserschnitt und war zwei Wochen später wieder für ihre Firma unterwegs. Damit es den Kindern an nichts fehlte, engagierten sie zwei Aupair-Mädchen. Die wechselten sich ab und versorgten rund um die Uhr Haus und Kinder. Sie waren sehr reich.
Ihr Mann hieß Markus. Er hatte zwei Ferraries. Markus vergötterte seine Frau. Sie kamen, weil Karrie sich auf einem Flug von Berlin nach Frankfurt in ihren Sitznachbarn verliebt hatte. Er hatte ihr seine Nummer gegeben und sie begannen ein Verhältnis. Karrie wollte alles für ihn aufgeben. Er hatte MS. Sie wollte aufhören zu arbeiten und für ihn da sein. Karries Mutter war Alkoholikerin gewesen. Karrie erzählte, dass sie als Kinder genau wussten, wenn sie getrunken hatte, obwohl sie es versteckt machte.
Dann war da Christine, die Eiskunstläuferin, die als Kind von ihrer Mutter aufs Eis gezwungen worden war. Nichts war ihr so schmerzhaft in Erinnerung, wie die Stürze auf das harte, kalte Eis, so erzählte sie. Ihre Mutter wollte Rekorde. Sie durfte nicht zunehmen und hatte keine Freundinnen, ihre Schularbeiten machte sie während der Trainingspausen auf der Tribüne. Ihr Mann Wolfgang war ein grobschlächtiger Kerl. Er sprach wenig und glaubte nicht an den Sinn einer Therapie. Für ihn war das Scharlatanerie. Er war an die fünfzig, sie zehn Jahre jünger.
Wenn sie ihr Zwiegespräch üben sollten und in den nahgelegenen Park gingen, hörte man Christine nach wenigen MInuten schimpfen und schreien. Wenn sie wieder reinkamen weinte sie. Manchmal verließ sie die Gruppe mit Türenschlagen, kam aber dann kurze Zeit später wieder zurück und entschuldigte sich. Bis vor kurzem waren beide beruflich erfolgreich und reich gewesen. Inzwischen drohte die Insolvenz. Er erzählte, dass sie die Briefe nicht mehr öffnete.
Am Morgen des 11. September, als sie aus dem Badezimmer kam und sich anzog, sah sie auf dem Standbild von CNN dabei zu, wie die beiden Flieger in die Türme des World Trade Centers in New York flogen. Danach besuchten sie ein Tantra-Seminar.
Tanz.